< Praxis für ZahnMedizin |
Tulus & Tulus | |||||||||||||||||||||||||
|
Fall
Nr. 2
Diagnostik
und Therapie eines rezidivierenden submukösen Abszesses
Kasuistik
Anamnese
Ein 52-jähriger Patient stellt sich mit akuten
Beschwerden im linken Unterkiefer vor. Er berichtet über
wiederkehrende Abszesse im Bereich des Zahnes 35, die
erstmals kurz nach einer vor ca. 2 Jahren durchgefühten
umfangreichen Zahnsanierung auftraten. Die Abszesse wurden
sowohl chirurgisch durch Inzisionen als auch medikamentös
durch Antibiotika behandelt. Dem Patienten wurden zwei Tage vor dem jetzigen Besuch vom
Hauszahnarzt erneut Antibiotika verordnet.
Klinischer
Befund
Die extraorale Inspektion ist unauffällig. Die Palpation
ergibt schmerzhafte submandibuläre Lymphknoten im linken
Unterkiefer und im mittleren Bereich des horizontalen
mandibulären Astes. Intraoraler Befund: der Patient trägt im linken UK eine
verblendete Brücke von 34 bis 37 mit 36 als Brückenglied.
Die Kronenränder sind leicht überkonturiert, der
Randschluss ist akzeptabel. Es zeigt sich ein Keramiksprung
vestibulär im Bereich des Kronenrandes an Zahn 35 (Abb.
1).
Im Bereich des Vestibulums der Zähne 34 und 35 ist eine
leichte, etwas schmerzhafte submuköse Schwellung
diagnostizierbar (Abb. 2). Lingual sind die Inspektion und
Palpation unauffällig. Narben von vorherigen Inzisionen
konnten nicht erkannt werden. Es liegt keine Fistel vor. Der Perkussionsbefund und die Sensibilitätsprüfung
fallen an den Zähnen 34 und 35 negativ aus. Bei der Sechspunkt-Sondierungstiefenmessung bei 34 und 35
ergeben sich Werte zwischen 2 und 3mm. Röntgenbefund
(Abb. 3)
Die Auswertung der intraoralen Röntgenaufnahme der Zähne
34 und 35 ergibt folgenden Befund: q
Die Zähne 34 und 35 sind mit verblendeten Kronen und höchstwahrscheinlich
intrakanalären Metallstiften versorgt. Es ist nicht
eindeutig erkennbar, ob die Kronen mit den Stiften verbunden
sind. Aufgrund der röntgenologisch erkennbaren
Konizität und der apikalen Geometrie der Stifte kann
vermutet werden, dass es sich um zementierte Parapost-Stifte
handelt. q
Die Randdichtigkeit der Kronen scheint akzeptabel zu sein q
Die Zähne 34 und 35 sind endodontisch behandelt und zeigen suboptimale
Wurzelkanalfüllungen, die ca. 2 mm vor dem anatomischen
Apex enden; q
Der Stift in Zahn 34 erscheint zentral im Wurzelkanal platziert zu sein und
reicht bis in das koronale Drittel des Wurzelkanals; q
Die Insertionsachse des Stiftes im Zahn 35 weicht stark nach mesial von dem
gefüllten Kanallumen ab. Die Spitze des Stiftes reicht bis
in das mittlere Wurzelkanaldrittel und endet ca. 0,5 mm vor
der mesialen Wurzelkanalwand. q
Ausgedehnte mesiale pararadikuläre Aufhellung (6 X 13mm) im koronalem und
mittlerem Bereich der Wurzel des Zahnes 35. Entscheiden
Sie:
q
Wie lauten die Diagnosen? q
Welche Therapieoptionen kommen in Frage? q
Für welche Option würden Sie sich entscheiden? q
Welche Probleme und Risiken sind bei der Therapie-Entscheidung zu berücksichtigen? Wie
würden Sie entscheiden?
q
Wie lauten die Diagnosen? q
Welche Therapieoptionen kommen in Frage? q
Für welche Option würden Sie sich entscheiden? q
Welche Probleme und Risiken sind bei der Therapie-Entscheidung zu berücksichtigen? Verdachtsdiagnosen
Ø
Verdacht
auf Wurzellängsfraktur im koronalen und/oder mittleren
Drittel des Wurzelkanals (wegen des Keramiksprunges) oder
laterale Perforation der Wurzel bei Zahn 35; Ø
Osteolyse
im Bereich der vermutlichen Perforation mit möglicher
Bildung von Granulationsgewebe Entfernung der Brücke mit anschließender
Extraktion des Zahnes 35
Diese einfachste Lösung weist den Vorteil auf, dass die
Ursache des Problems mit größter Sicherheit und auf
einfachem Wege beseitigt und kein Rezidiv zu erwarten wäre.
Als Nachteile stehen dem gegenüber, dass für den Patienten
höhere Kosten aufgrund der Notwendigkeit einer erneuten
prothetischen Versorgung entstehen Hinzu kommen etwas ungünstigere Verhältnisse bei einer
neuen prothetischen Versorgung, da die zu überbrückende
Spanne größer wird und der Zahn 34 als einziger anteriorer
Brückenpfeiler nicht ausreichen dürfte, Es müsste der
kariesfreie Zahn 33 als Brückenpfeiler hinzugenommen
werden. Wurzelamputation des Zahnes 35 mit Abtrennung des
Stiftes (ohne Entfernung der Brücke)
Mögliche Vorteile dieser
Therapieoption wären wiederum die sichere Ausschaltung der
Beschwerden des Patienten. Die prothetische
Restauration könnte zunächst belassen werden, die
Behandlung wäre zunächst für den Patienten deutlich
kostengünstiger als die meisten Alternativen Als Nachteil ergäbe sich
wiederum eine ungünstige Relation zwischen der Zahl der Brückenpfeiler
und der Extension der Brücke, da der Zahn 35 zu einem Brückenglied „umgewandelt“ würde. Die komplette
Entfernung organischer Reste des unter der Krone
befindliches Zahnstumpfes ist technisch nicht möglich. Auch
eine perfekte Abdichtung der dadurch entstandenen leeren
Krone erscheint problematisch. Intraoperativ bestünde die Gefahr, dass während der
Durchtrennung des metallischen Wurzelstiftes Metallspäne in
die Extraktionswunde gelangen. Die „Umarbeitung“ der Krone des Zahnes 35 in ein Brückenglied
ohne Abnehmen der Brücke verhindert die kunstgerechte
funktionelle Gestaltung des neuen Brückengliedes im Sinne
eines Pontics mit Kontakt zur zahnlosen Schleimhaut. Für
die Gestaltung der „halbwegs vernünftigen“ Brückengliederunterfläche
und Kontakte zur zahnlosen Schleimhaut mit Komposit wären
mehrere Sitzungen erforderlich. Orthograde Stiftentfernung, Perforationsverschluss
und Revision der Wurzelkanalbehandlung
Eine mögliche Therapievariante bestünde in diesem Fall
in einer orthograden Revision der Wurzelkanalbehandlung.
Nach der Entfernung des Stiftes würden der Verschluss der
lateral lokalisierten Perforation (z.B. durch das von Bargholz
beschriebene „modifizierte Matrixkonzept“ 1,2)
und die Revision der suboptimalen endodontischen Behandlung
möglich. Dadurch würde die Aussicht verbessert, die Keime sowohl
aus dem Wurzelkanalsystem als auch aus dem
Perforationsbereich zu eliminieren. Auch bestünde die Möglichkeit
durch einen Verschluss der Perforation mit MTA eine
Knochenregeneration zu induzieren. Studien belegen das die
Eigenschaft von MTA die Regeneration von Fibroblasten des
Parodontalligamentes, die Apposition zementoblastenähnlicher
Zellen zu fördern und die Knochenneubildung zu induzieren 3. Dieses Vorgehen setzt die Entfernung der Brücke und des
Wurzelstiftes voraus. Als Vorteile dieses Vorgehens
sind zu benennen, dass bei guter intraoperativer Übersicht eine optimale Reinigung und Desinkektion
des Wurzelkanalsystems sowie eine Optimierung der
vorhandenen Wurzelfüllung möglich würden. Als Nachteil ist zunächst die
notwendige Zerstörung
der relativ neuen Brücke zu diskutieren. Ein Versuch, mit
entsprechenden Hilfsmitteln (z. B. Corona-Flex) die Brücke
schonend zu entfernen, könnte zur Fraktur der mit Stiften
versorgten Zähne führen. Der Einsatz solcher Hilfsmittel
erscheint zudem sehr riskant, da anhand der Röntgenaufnahmen
nicht feststellt werden kann, ob die Stifte zusammen mit den
Kronen oder separat gegossen bzw. eingesetzt wurden. Auch eine Fraktur der Wurzel des Zahnes 35 beim Versuch
der Stiftentfernung ist asl mögliches Risiko in Betracht zu
ziehen. Chirurgische Darstellung der
Perforationsstelle, Kürzung des Metallstiftes und
Abdichtung der entstandenen Kavität mit MTA Eine andere mögliche Therapielösung wäre,
nach Darstellung der perforationsstelle durch einen
chirurgischen Eingriff eine intraoperative die Kürzung des
Stiftes von der Wurzelaußenseite her durchzuführen und
anschließende die hierbei präpararierte „retrograde“
Kavität in der Wurzelkanalwand mit MTA zu verschließen.
Dadurch würde die Zerstörung der Brücke vermieden. Vorteile dieses
Vorgehens wären die Abdichtung der Perforationsstelle unter
Sichtkontrolle, die Möglichkeit einer sorgfältigen Kürettage
der pararadikulären Läsion und der Inspektion eines Großteils
der Wurzel im Bezug auf eventuelle Risse oder Längsfrakturen
sowie der Erhalt der prothetischen Versorgung des linken
Unterkiefers. Als nachteilig
zu werten wären
die Schwierigkeiten
bei der Darstellung der Perforationsstelle und bei der
Abtrennung des Stiftes falls diese nach lingual ausgerichtet
sind, die mögliche starke Schwächung der Wurzel bei dem
Versuch, den Wurzelstift retrograd zu kürzen, eine
langfristig evtl. resultierende Wurzelresorption im
lateralen Bereich (Perforation bzw. Abdichtung) wegen
Unterbrechung des (knöchernen) Periodonts. Während der Kürzung
des Stiftes besteht die Gefahr, dass Metallspäne in die
Operationswunde gelangen. Therapieentscheidung
Der Patient wurde über alle o. a. Therapiemöglichkeiten
umfassend aufgeklärt, wobei ihm die letzte Variante
empfohlen wurde. Die Entscheidung wurde gemeinsam getroffen
und fiel für die Kürzung des Metallstiftes und Abdichtung
der entstandenen Kavität mit MTA von „retrograd“. Der Patient wurde darauf hingewiesen, dass eine Längsfraktur
der Wurzel nicht ausgeschlossen werden könne. Solche
Frakturen treten recht häufig bei mit Metallstiften
versorgten Zähnen auf 4. Der vestibuläre
Keramiksprung im Randbereich der Krone könnte als Hinweis
auf eine Längsfraktur interpretiert werden. Es konnten aber
nicht die für Längsfrakturen typischen parodontalen Einbrüche
mit punktuell deutlich erhöhten Sondierungstiefen
diagnostiziert werden. Durch den chirurgischen Eingriff würde
die Möglichkeit der Inspektion unter ausreichender Sicht
auf einen Großteil der Wurzel eröffnet. Falls
intraoperativ eine Wurzellängsfraktur verifiziert würde,
bliebe die Möglichkeit der sofortigen Wurzelentfernung
offen. Therapie Die vermutete Perforation der Wurzel
weicht von der Längsachse des Zahnes stark nach
mesial ab. Aus dem Röntgenbild ist zu entnehmen, dass auch
eine Abweichung in vestibulo-lingualer Richtung vorliegt,
jedoch ist nicht exakt festzustellen, ob die Perforation
nach vestibulär oder nach lingual ausgerichtet ist. Die
gegenwärtige vestibuläre Schwellung und die in den letzten
Monaten rezidivierenden vestibulären Abszesse lassen
verbunden mit der unauffälligen lingualen Inspektion einen
nach vestibulär ausgerichteten Knochenabbau erwarten. Somit
wird ein chirurgischer Zugang von vestibulär gewählt. OP-Verlauf
Nach paramarginaler Schnittführung unter Lokalanästhesie
erfolgte die Präparation eines Mukoperiostlappens und
dessen Mobilisierung nach apikal. Unter dem OP-Mikroskop
wurde das Granulationsgewebe bis in gesunden Knochen
entfernt. Eine Osteotomie zur Darstellung der Wurzel war
wegen der ausgedehnten Knochenresorption (Abb.
4) nicht
notwendig, die linguale Knochenwand war allerdings von der
Resorption nicht betroffen. Die Perforationsstelle an der mesialen Wurzelseite wurde
mit Hilfe von Mikrospiegel und doppelt gebogener Mundsonde
dargestellt (Abb. 6) und eine Wurzelglättung mit
Ultraschall (Paro-Ansätze)vorgenommen. Röntgenaufnahme mit einer Kürette für die Überprüfung
der „Schnittebene“ für die Kürzung des Metallstiftes (Abb.
5). Es folgte die Kürzung des Metallstiftes unter
NaCl-Kühlung mit Hilfe von diamantierten Ultraschallansätzen
zur retrograden Präparation, die Reinigung der entstandenen
Kavität und die Abdichtung mit MTA-Zement (ProRoot,
Dentsply, Konstanz) – Abb. 7. Nach einer Röntgenkontrolle (Abb. 8) wurde die Wunde mit
monofilem atraumatischem Nahtmaterial der Stärke 5-0
verschlossen. Die Fäden wurden nach 7 Tagen entfernt, die Wundheilung
verlief komplikationslos. Sechs Monaten nach dem Eingriff berichtet der Patient über
komplette Symptomfreiheit. Die intraorale Inspektion ergibt
eine vollständige Heilung der Weichgewebe. Die angefertigte
Röntgenaufnahme (Abb. 9) zeigt bereits eine Tendenz zur
Reossifikation. Angesichts der relativen kurzen Beobachtungszeit ist eine
Beurteilung der Entscheidung sicherlich nicht aussagekräftig.
Dennoch die völlige Beschwerdefreiheit des Patienten wie
auch die röntgenologisch zu beobachtende Reossifikation
sind als positive Zeichen zu betrachten. Die bei der
Entscheidungsfindung dargestellten möglichen Vorteile
dieser Entscheidung konnten bisher bestätigt werden. Literatur 1. Bargholz C:
Die klinische Anwendung von Mineral Trioxide
Aggregate (MTA). Endodontie
2004; 13: 235-242. 2. Bargholz, C: Perforation repair with mineral trioxide aggregate: a
modified matrix concept. Int
Endod J 2005; 38: 59-69. 3. Schwarze T: Mineral Trioxide Aggregate (MTA) – Eine
Literaturübersicht. Endodontie
2004; 13: 211-224. 4. Kfir A, Zukerman O, Tamse A, Fuss Z: Vertikale
Wurzelfrakturen bei wurzelkanalbehandelten Zähnen – Ätiologie,
Diagnose und Therapie. Endodontie
2002; 11: 115-121.
|
|||||||||||||||||||||||||